Die Heilung der eigenen Essstörung fängt mit einer inneren Entscheidung an.
Deswegen möchte ich dir heute erzählen, wie du bewusst diese Entscheidung treffen kannst, beziehungsweise, wie du bewusst an diesen Punkt kommen kannst um deine intrinische, innere Motivation für Heilung zu finden.
Wie kann man den Wunsch entwickeln gesund zu werden? Wie kann man den Mut entwickeln um wirklich loszugehen?
Du musst doch nur essen – ich glaube jeder, der mit einer Essstörung zu kämpfen hat, hat diesen Satz schon einmal gehört. Weil eine Essstörung für Außenstehende, für Freunde und Familie eine ganz simple Gleichung darstellt. Sie isst nichts – ist krank, sie fängt an zu essen – die Essstörung verschwindet.
Aber so einfach ist es nicht. Weil es nicht darum geht einfach zu essen.
Es können noch so viele Leute sagen, dass du endlich anfangen musst zu essen, dass ein Leben ohne Essstörung doch viel besser wäre, wenn es in dir nicht klick macht, wenn dieser Wunsch gesund zu werden nicht aus dir kommt – aus deinem Inneren. Dann wird es nicht funktionieren.
Es gab einen Punkt in meinem Leben, da habe ich mich damit abgefunden essgestört zu sein. Ich dachte, das wäre mein Weg. Ich dachte, dass ich mich eben damit arrangieren müsste mein Leben lang krank zu sein, dass es für mich keine Möglichkeit gibt.
Das lag unteranderem auch daran, dass die Essstörung mir eine unglaubliche Sicherheit gegeben hat. Ich hatte alles unter Kontrolle – zumindest glaubte ich das.
Ich hatte so Angst davor, was passieren würde, wenn ich mich dazu entscheide, diese Essstörung loszulassen. Die Kontrolle abzugeben.
Wenn ich jetzt wieder anfange zu essen und unglaublich dick werde, dann brauche ich so unglaublich lange um wieder an diesen Punkt, mit 47 kg zurück zu kommen an dem ich jetzt bin. Ich wollte nicht wissen, wie es ist einfach alles essen zu können, ich hatte so eine Angst davor in diese ungewisse zukunft zu gehen.
Insgeheim habe ich in dieser Zeit die Essstörung schön geredet, mir erzählt, dass es doch eigentlich ganz gut funktioniert, so wie es ist. Klar musste ich Abstriche machen, konnte nicht essen was ich wollte, oder ohne Hintergedanken an Kalorien und Wiegen durch meinen Alltag gehen – aber ich habe mir selbst gesagt: Das ist halt der Preis den ich zahlen muss. So bin ich halt. So schlimm ist es doch garnicht.
Weil ich das Gefühl hatte, dass ich immer so weitermachen kann. Dass ich nicht an den Punkt komme, an dem mein Körper sagt: Ich kann nicht mehr. Jetzt ist Schluss.
Es gab nur das hier und jetzt. Mich und meine Essstörung. Zwanghaftes Wiegen, Erbrechen, mehrere Stunden Sport pro Tag, verbotene Lebensmittel.
Und dann kam Fuerteventura.
Dieser Urlaub über Weihnachten war glaube ich einer der Dunkelsten. Ich erinnere mich nur noch an wenige Schlüsselmomente aus diesen zwei Wochen.
In meinem Koffer schleppte ich bestimmt zehn Bücher und Lernhefte für meine anstehenden Abiturprüfungen mit und lernte wie eine Besessene.
In diesen zwei Wochen auf Fuerteventura lernte ich als hinge mein Leben von diesen Prüfungen ab.
Mein innerer Leistungsdruck und die Angst zu Versagen war so groß, dass es der Bulimie freistand meinen Tagesablauf zu bestimmen. Morgens nach dem Frühstück erbrach ich mich. Anschließend lernte ich drei bis vier Stunden. Mittags lief ich zu dem einzigen naheliegenden Supermarkt, kaufte Unmengen an süßem Gebäck und Würstchen für je einen Euro, schloss mich im Hotelzimmer ein, betäubte mich mit Essen, während wahllos eine Serie im Fernsehen lief. Anschließend erbrach ich mich wieder.
Ich zog mich zurück. Verbrachte kaum Zeit mit meinen Eltern. Nur zwei oder dreimal machten wir Ausflüge, an denen ich teilnahm. Auf einem dieser Ausflüge entstand ein Bild, das mich noch heute tief im Herzen trifft. Ich, mit dem Hund im Arm auf einer kleinen Mauer stehend – dick meine Winterjacke eingepackt, bei Sonnenuntergang. Das Bild ist so dunkel, dass man fast nicht erkennt, was darauf zu sehen ist. Nur die Sonne, die durch die riesige Lücke zwischen meinem rechten und linken Oberschenkel scheint. Die Augen todtraurig. Mit Tränen in den Augen stand ich auf dieser Mauer. Weil ich nicht mehr wusste wie ich weiterleben sollte. Was es lebenswertes für mich auf dieser Welt gab. Warum ich überhaupt hier war? Ich schleppte mich von einem Tag zum nächsten, nur das Ziel im Kopf, die Stunden zwischen Sonnenauf- und -untergang so schnell wie möglich rumzukriegen. Ohne Essen, mit Erbrechen.
Ich habe so gelitten. War körperlich total am Ende, seelisch sowieso.
Ich erinnere mich noch, dass ich auf dem Rückflug nach Hamburg das erste Mal etwas wirklich genoss. Ich aß Tortellini mit Pesto – und erbrach sie nicht. Ich war zu erschöpft um der inneren Kritikerin zuzuhören. Irgendwie wollte ich diese Tortellini einfach genießen. Flugzeuge haben für mich etwas Magisches an sich. Ich war in diesem Moment so voller Ruhe, blickte auf die Wolken unter mir und hätte ewig so weiterfliegen können. Fühlt sich so Sterben an? Über den Wolken mit einer Aluschüssel voller Tortellini
Zurück in Hamburg, zurück in meiner alten Umgebung, die auf mich toxisch wirkte, setze ich in den nächsten Monaten meinen Kreislauf aus verbissenem Lernen, Erbrechen und Betäubt sein fort. Ich schwänzte teilweise Schulstunden am Morgen um meinen inneren Stress vor dem kommenden Tag mit Essen und Übergeben zu kompensieren. Ich konnte in der letzten Stunde vor Hunger nicht stillsitzen, ging vorzeitig nach Hause um auf dem Weg mehrere belegte Brötchen beim Bäcker zu kaufen und mich vor dem Lernen am Nachmittag zu Erbrechen.
Auch wenn die Bulimie mir half meinen inneren Druck und Ängste abzubauen, konnte ich allmählich spüren, wie sehr mein Körper litt. Wie sehr ihm die ständigen Ess-Brech-Anfälle zusetzten.
Teilweise konnte ich nach so einem Anfall nicht vom Badezimmerboden aufstehen, litt tagsüber unter fürchterlichen Schwindelattacken und Sodbrennen. Nach außen kommunizierte ich nie wie schlecht es mir ging. Bis ich nach einem besonders schlimmen Ess-Brech-Anfall einen stechenden Schmerz oberhalb des Solarplexus spürte. Es fühlte sich an, als wäre in mir etwas gerissen, ich konnte kaum Atmen ohne starke Schmerzen zu haben.
Und das war im Endeffekt der Moment, der für mich alles verändert hat. Der Moment in dem in mir ein innerer Shift stattgefunden hat.
Und ich möchte dir jetzt einmal erzählen, was genau in dieser Situation in mir vorging, weil ich das ein absoluter Schlüsselmoment in meinem Heilungsprozess war. Der Moment der inneren Motivation
Ich erinnere mich noch, dass ich auf mein Fensterbrett setzte und dachte „That is it. Jetzt stirbst du einfach“ Und auf einmal musste ich so anfangen zu weinen, weil alles was ich mir für mein Leben gewünscht hatte niemals Wirklichkeit werden würde. Weil ich mir durch diese Krankheit und mein Verhalten mein ganzes Leben kaputt gemacht hatte.
Ich erinnerte mich, daran wie mein Leben früher ausgesehen hat. Wie enttäuscht ich damals mit 14 Jahren war, wenn es statt Nudeln, Gemüse mit Tofu zum Mittagessen gab. Dass ich Sport gemacht habe ohne darauf zu achten, wie viele Kalorien ich verbrannt habe, dass ich im Sommer verrückt war nach Erdbeeren mit Schlagsahne und Zucker. Dass ich nach Herzenslust gelacht habe, wie Pippi Langstrumpf frei, wild und wunderbar war. An all die glücklichen Momente die ich hatte. An all die Freundschaften, die aufregenden Situationen an die man sich sein Leben lang erinnert.
Und jetzt? Jetzt war ich hier und kurz davor mich von dieser Welt zu verabschieden.
Ich würde niemals wissen, wie es ist zu studieren, wie es sich anfühlt Studentin zu sein, neue Dinge zu lernen. Ich würde niemals wissen, wie es ist zu arbeiten, einen Job zu haben, in einer eigenen Wohnung zu wohnen. Ich würde niemals meine große Liebe finden, niemals heiraten und mein Brautkleid aussuchen.. meine eigene Hochzeit erleben. Ich würde niemals wissen, wie es ist schwanger zu sein, oder ein Kind zu kriegen. Mama zu sein. Enkel zu haben.
Selbst wenn ich diesen Abend jetzt hier überleben würde... wenn ich weiter mit der Essstörung lebe, dann wäre ich meine ganze Zukunft gefangen in der Essstörung. In einem Kreislauf aus Essen und Erbrechen, aus Hungern und Wiegen. In einem Kreislauf in dem kein Platz ist für echtes Leben. Selbst wenn ich diesen Tag überleben würde, wäre mein restliches Leben kein richtiges Leben. Sondern ein Durchhalten. Ein Warten auf den nächsten Tag.
Wie ich meine Angst vor bestimmten Lebensmitteln, meine Sportsucht und mein verschobenes Körperbild an meine Kinder unbewusst weitergeben würde, sollte ich überhaupt in der Lage dazu sein, Kinder zu bekommen.
Ich habe mich selber gesehen, mit 35 Jahren als Mutter, wie ich vor einem leeren Teller mit meinen Kindern am Esstisch saß: Mama, warum isst du nichts? Wie ich bestimmte Veranstaltungen und Urlaube mit Kalorien zählen und erbrechen verbringen würde. Was ich alles verpassen würde. Wie ich zu schwach wäre um mit meinen Enkeln zu spielen, weil mir die Essstörung über die Jahre meinen Körper und meine Knochen kaputt gemacht hätte. Wie ich an meinem 80-igsten Geburstag zurückblicken würde auf mein Leben und feststellen müsste, dass ich jeden einzelnen meiner Geburtstagskuchen nicht genossen hätte. Dass ich mein Leben einfach nicht genossen hätte.
Diese Vorstellungen waren so unglaublich schmerzvoll. Sie haben mir körperlich wehgetan. Sie haben mich so unendlich traurig gemacht. Ich saß einfach da und habe geweint. Diesens ganzen Schmerz rausgeweint, darüber, dass mein Leben für immer ein Überleben bleiben würde.
Und dann kam plötzlich dieser Gedanke, wie mein Leben aussehen würde, wenn ich mich vom heutigen Tag an entscheiden würde ohne die Essstörung weiterzuleben. Ich habe mir vorgestellt wie es wäre geheilt zu sein.
Wie ich meinen Bachelorabschluss mache, wie ich das erste Mal einen Mietvertrag unterschreibe, wohin ich reisen würde, welche Menschen ich treffen würde.
Wie ich mein Brautkleid aussuche, wie ich wunderschön und ohne Gedanken an Kalorien und Körper schwanger bin und Mutter werde. Dass ich meinen Kindern ein gutes Selbstwertgefühl vermittle und ihnen beibringe, dass Essen etwas Schönes ist. Etwas das Spaß macht. Etwas das frei von Angst oder Kontrolle ist.
Wie ich an meinem 80igsten Geburstag im Kreis meiner Liebsten bin und sagen kann: Wow, du kannst so stolz auf dich sein. Du hast wirklich gelebt.
Das war sozusagen die positive Umkehrung der ersten Story.
Und warum ich das alles erzähle ist, weil mir in diesem Moment klar geworden ist, dass ich etwas ändern muss. Dass ich nicht diese erste, schmerzerfüllte Version meines Lebens leben möchte. Dass ich glücklich und erfüllt sein möchte.
Dass ich bereit bin für mein Wunschleben zu kämpfen. Und es hört sich mega kitschig an, aber nach diesem Moment bin ich wie in Trance von meinem Zimmer in die Küche gegangen und habe mir um 3 Uhr morgens ein Käsebrot gemacht. Den Teller mit in mein Zimmer genommen und das erste Mal bewusst gegessen.
Dieses Käsebrot war ein Statement. Ein Versprechen mir selbst gegenüber. Ich möchte frei sein. Ich möchte gesund werden.
Und das war so kraftvoll für mich, weil ich selber mit diesen zwei Geschichten festgestellt habe, dass ich die Möglichkeit habe mich für das eine oder das andere zu entscheiden. Dass ich diejenige bin, die diese Zukunft ändern kann, sie so gestalten kann wie ich will.
Und ich glaube einfach, dass es unglaublich kraftvoll und heilsam sein kann, wenn du diese Übung machst.
Dir also wirklich vorstellst – wie entwickelt sich mein Leben, wenn ich weiterhin so lebe wie jetzt? Wenn ich weiterhin eine Esssstörung habe. Wie fühle ich mich dann? Welche Dinge, die ich immer mal machen wollte, kann ich nicht machen weil ich die Essstörung habe?
Welche Situationen kann ich nicht in vollen Zügen genießen, weil ich meinen Körper nicht liebe. Weil ich mich nicht liebe und an Kontrolle festhalte? Was verpasse ich? In welchem gesundheitlichen Zustand wird mein Körper sein, mit 60 oder 70 Jahren? Was würde ich an meinem 80. Geburtstag über mich denken?
Und es kann sein, dass diese Vorstellungen unglaublich schmerzhaft sind, wirklich körperlich wehtun. Dass sie dich, so wie mich auch damals.. unendlich traurig machen.
Bleibe ruhig einen Moment in diesem Gefühl, nimm wahr wie es sich anfühlt, wenn du dich nicht dazu entscheidst diese Essstörung loszulassen.
Und es ist nochmal viel kraftvoller, wenn du diese erste Vision deines Lebens aufschreibst. Sie wirklich auf Papier siehst, nicht nur ein loser Gedanke, sondern wirklich ein Fakt auf Papier, der sich bewahrheiten kann, wenn du nichts änderst.
Und jetzt stell dir vor, wie dein Leben in Zukunft wird, wenn du dich für dich entscheidest. Wenn du innerlich sagst und bewusst die Entscheidung triffst: Ich mache das jetzt. Ich bin bereit die Essstörung loszulassen. Welches Leben dann auf dich wartet. Welche wunderbaren Erfahrungen du machen wirst. Welche Erinnerungen du erschaffen wirst. Welche Menschen du kennenlernen oder wohin du reisen wirst.
Und spüre einfach wie wunderbar und einzigartig dieses Leben ist, was auf dich wartet. Dein Leben. Wie glücklich und erfüllt dein Leben in der Zukunft sein kann, wenn du die Essstörung loslässt.
Schreib auch diese zweite Version auf – schreib alles auf was du tun oder erleben würdest.
Und es war für mich so wichtig beide Lebensvisionen einmal wirklich innerlich zu leben. Zu erfahren, welchen Einfluss diese Essstörung tatsächlich auf mein Leben hat.
Weil ich erst diesen Schmerz spüren musste, erst in diese Dunkelheit gehen musste um zu erkennen, dass ich nicht ewig so weitermachen kann. Dass ich nicht so weitermachen will.
Um dann im nächsten Schritt eine positive Version meines Lebens zu erschaffen, etwas für das es sich lohnt, loszugehen. Etwas dass mir die Kraft gibt das wirklich umzusetzen.
Und ich hoffe, dass dir diese Übung die Augen öffnet. Dass du erkennst, was alles auf dich wartet in deinem neuen Leben.
Dass es sich lohnt diese Entscheidung zu treffen. Dass es sich lohnt loszugehen- für dieses Leben.
Ich habe diesen Zettel bis heute in meinem Tagebuch. Ab und zu gucke ich ihn mir an, gucke mir diese beiden Versionen meines Lebens an und bin so froh, dass ich mich für die zweite entschieden habe. Dass ich entschieden habe, dass ich etwas ändern möchte. Weil es möglich ist, Heilung ist möglich. Es gibt Hoffnung für ein Leben ohne Essstörung.
Und in Phasen meiner Heilung in denen ich alle Hoffnung verloren hatte, keine Kraft hatte weiterzumachen, habe ich auf diesen Zettel geguckt um mich wieder zu erinnern, an dieses zweite Leben, das ich jetzt tatsächlich lebe. Das Realität geworden ist, weil ich damals entschieden habe, dass ich die Essstörung nicht länger in meinem Leben will.
Und ich hoffe so sehr, es ist wirklich mein tiefster Herzenswunsch, dass du erkennst, dass nur du diese Entscheidung treffen kannst.
Es gibt kein Leben mit ein bisschen Essstörung. Du kannst dich jetzt und hier für die zweite Version deines Lebens entscheiden. Auch wenn sie dir Angst macht, auch wenn du noch nicht weißt
was auf deinem Heilungsweg auf dich wartet.
Ich schicke dir eine große Umarmung und hoffe dass dieser Text etwas in dir berührt hat.
Natürlich freue ich mich unglaublich wenn du mir dein Feedback dalässt, entweder auf Instagram oder als Kommentar hier auf meiner Website.
Du bist auf dem richtigen Weg.
Alles Liebe,
deine Oona
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Alija (Montag, 14 Oktober 2019 16:13)
Aber wie lebe ich ohne essstörung.. Wie esse ich ohne essstörung?
Oona (Montag, 14 Oktober 2019 19:52)
Hallo Alija,
schreib' mir bitte eine Nachricht über mein Kontaktformular <3
Oona